seniorweb.ch, 29. Januar 2021
Model-Schönheiten und Naturburschen werben für Rollatoren
Werbung für Senioren zeigt diese so, wie sie sich gerne selbst sehen möchten. Deshalb fährt ein quicklebendiger Naturbursche mit einen Rollator namens Gazelle durch sonnige Landschaften.
Der Berner Werber Stefan Gilgen weiss, wie man Fassaden baut.
„Blitz & Donner“ heisst die mittelgrosse Berner Werbeagentur, die der 52-jährige Stefan Gilgen mit seiner Frau Annette Michel Gilgen seit 1996 leitet.
Herr Gilgen, ganz simpel: Was ist Werbung, was kann Werbung?
Stefan Gilgen (Bild):Anders als viele meinen, weckt Werbung keine Bedürfnisse. Sie kann diese verstärken und vermeintlich befriedigen, aber sie kann sie nicht erschaffen .
Ich bitte Sie, niemand braucht Red Bull, die Werbung bewirkt, dass wir dieses scheussliche Getränk konsumieren.
Red Bull befriedigt Bedürfnisse nach Zucker und Koffein und verbindet das mit dem Drang nach Abenteuer, Freiheit und wildem Leben.
Konzentrieren wir uns auf die Senioren. Warum berücksichtigt die Werbung diese Zielgruppe immer noch nicht ihrer Wichtigkeit entsprechend?
Sie widmet sich ihnen mehr als früher, aber tatsächlich nicht ihrer Bedeutung und ihrer Kaufkraft entsprechend. Der wichtigste Grund: Senioren sind keine einheitliche Zielgruppe. Sie sind so
verschieden, wie jede andere Alterskategorie. Zum Beispiel Mick Jagger und Prinz Charles: Beide sind gleich alt, aber ganz sicher nicht mit der gleichen Ansprache erreichbar.
Wenn beide einen Rollator brauchen würden, hätten die zwei und die Werber eine gemeinsame Basis.
Eigentliche Senioren-Artikel brauchen keine Werbung. Rollatoren, Inkontinenz-Produkte oder Rollstühle sind so nötig, dass die Anbieter ihr Geld besser in den Vertrieb, die Beratung oder in den
Service stecken als in die Werbung.
Offenbar investieren die Firmen viel Energie in unfreiwillig komische Namen. Manche Gehhilfen heissen Tiger, Gazelle oder Antilope.
Vermutlich wollen die Unternehmen die Kunden davon überzeugen, dass sie mit einem solchen Gefährt wieder leichtfüssig unterwegs sein werden. Solche Bezeichnungen sind läppisch und unüberlegt.
Ist es ebenso unüberlegt, dass für Seniorenartikel durchwegs mit Bildern von Jüngeren geworben wird? Den Treppenlift bedient eine strahlende 40-Jährige. Für die Inkontinenz-Schutzhose
lächelt ein gutgelaunter 50-Jähriger.
Zahnersatz oder Gehhilfen sind zwar nötig, aber halt nicht sexy. Drum zeigt die Werbung solche Produkte gerne mit attraktiven Models. Senioren-Angebote, Reisen, Kurse, Fitness werden oft unter
dem Label 50 plus angepriesen. Da kann man sicher sein, dass kein Teilnehmer unter 65 ist.
Jüngere streamen werbefrei, nur noch Senioren nutzen Programm-Fernsehen, schauen um halb acht die Tagesschau und werden vor- und nachher mit TV-Spots bestraft. Warum sind so viele so
schlecht?
Weil zu viele dreinreden und jene entscheiden, die nur am Umsatz interessiert sind. Der Werber hat eine tolle Idee, der Verkaufsleiter schnippelt ein bisschen dran herum, der Marketing-Chef
schnippelt noch mehr und der CEO beschliesst, eine Familie zu zeigen, die begeistert Tiefkühl-Pizza isst.
Nach dem Pizza-Spot kommt Kosmetika mit einer blonden Langhaar-Fee, die „47 Prozent weniger Falten verspricht“. Das ist nicht nur doof, sondern zeigt auch die Deko-Funktion der
Frauen.
Der Spot mag läppisch sein. Aber generell ist das Frauenbild in der Werbung längst nicht mehr so, wie Sie das darstellen.
Bei älteren Männern stehen Falten für Würde und Solidität. Bei Frauen sind sie ein Übel, dass sie gefälligst eliminieren sollen.
Das ist Ihre Generation, die der Senioren, die dieses Frauenbild sieht – oder bekämpft. Die Werbung kann sich längst nicht mehr erlauben, Frauen als Heimchen am Herd, Sexsymbol oder Anhängsel von
Männern zu zeigen. Würde sie das, gäbe es einen Shitstorm.
Die Werbung schätzt die Senioren, weil viele genügend Geld haben. Als spezielle Käufergruppe mit speziellen Bedürfnissen werden sie hingegen kaum wahrgenommen.
Ebenso wie es fast kein echtes Kindermarketing gibt, existiert auch kaum ein spezielles Seniorenmarketing. Die eigentlichen Seniorenprodukte wie Rollatoren, Krankenbetten oder
Behindertenhilfsmittel werden nicht von den Senioren gekauft, sondern von deren Angehörigen.
Manche Altersheime sind unterbelegt, müssten also eigentlich werben. Wie würde Ihre Agentur einen solchen Auftrag anpacken?
Ich würde den Damen und Herren sagen, dass sie ihr Geld für anderes ausgeben sollen. Eine nette Broschüre, ein gefälliger Internet-Auftritt, das genügt. Die Texte kann die Sekretärin bei den
anderen Altersheimen abschreiben. Es steht bei allen eh das gleiche drin: das Wohl, die Würde, die liebevolle Betreuung. Altersheime wählt man nicht anhand ihrer Beschreibungen aus. Sie leben von
ihrem guten Ruf.
Nagellack passend zum Auto
Für Uni-Dozentin Julia Nentwich vermittelt die Werbung ein Frauenbild weitab von unserer Realität. Die „Grossmütterrevolution“ etwa habe anderes im Sinn als gerade angesagte
Trendfarben.
Julia Nentwich (Bild) forscht und lehrt an der Universität St. Gallen und beschäftigt sich dort unter anderem mit Gleichstellungsfragen. Die Werbung habe sich verändert, bestätigt sie dem Berner
Werber Stefan Gilgen. Doch im weiteren grenzt sie sich deutlich von ihm ab.
Die Werber arbeiteten häufig mit einem Frauenbild aus dem 19. Jahrhundert, erklärt sie. „Gemäss diesem Verständnis sind Frauen von Männern abhängige Subjekte.“ Mit unserer Wirklichkeit habe
dieses Klischee nichts tun. „Wenn die Werbung Frauen zeigt, die ihren Nagellack nach der Farbe ihres Autos aussuchen, ist das bloss ein lächerliches Zerrbild der Realität.“
Solch überholte Rollenbilder seien seltener und subtiler geworden. Doch: „Klischees finden sich auch heute noch. So werden Seniorinnen gerne in der Rolle der Grossmutter, seltener als
selbstbestimmt lebende, attraktive und sexuell aktive Frau dargestellt.“ Mit dem wahren Leben habe dies nichts mehr zu tun, so Nentwich. Sie nennt als Beispiel die „Grossmütterrevolution“, bei
der sich Seniorinnen aus eigenem Antrieb für ihre gesellschaftlichen Anliegen einsetzen