seniorweb.ch, 29. Juni

 

Schummeln die Sterne oder die Hellseherinnen?

Das Wahrsagegeschäft mit den 901-Telefonnummern in den Heftli soll man zwar nicht allzu ernst nehmen. Doch ist das Zukunftsgewerbe einen Selbstversuch wert. Dessen Ergebnis: Chrüsimüsi.

Ich werde eine viel jüngere Partnerin finden, eine „chnusprige“, prophezeit Wahrsagerin Luisa. Hoppla, die Genderproblematik mit ihrer heiklen Wortwahl ist bei der Hellseherin noch nicht ins Blickfeld geraten. Die vielversprechende Prognose gehört zu einem Selbstversuch. Ich habe die Voraussagen von vier Wahrsagerinnen verglichen, Luisa, Rosalia, Valentina und Esmeralda, Namen geändert. Alle vier sind sich einig: Auf mich wartet eine neue Liebe.

Auf mich wartete eine „Chnusprige“

Für diesen Test gebe ich an, dass ich 72 bin (stimmt nicht ganz) und dass ich seit zwei Jahren als Wittwer lebe (stimmt zum Glück nicht). Ich wähle 901-Telefonnummern der Kleinanzeigen in den einschlägigen Printmedien. Zwischen 1.20 und 3.50 kosten die Beraterminuten.
 
Wie sind meine Voraussetzungen für ein neues Liebesglück, will ich als erstes wissen. Luisa antwortet, dass ich noch acht Wochen warten muss. Dann werde ich eine 50- bis 55-Jährige mir bisher unbekannte Dame kennenlernen, eben, eine „Chnusprige“. Wir werden uns drinnen oder draussen treffen. Nun ja, überlege ich, wo denn sonst?

Nun zu Rosalia. Gemäss dieser Kartenlegerin wohnt die neue Partnerin in meinem Quartier, ich kenne die Blondine bereits. Der Funke wird schon in den nächsten zwei Wochen überspringen. Anders bei Valentina. Bei ihr muss ich mich nicht beeilen: Bis Ende Jahr sind die Chancen für eine mir fremde Partnerin günstig. 

Esmeralda geht ran

Bei Esmeralda winkt mir das Glück nicht nur zu, nein, es läuft mir hinterher. „Du bist ein attraktiver Mann und hast viele Verehrerinnen.“ Wie sie dies per Telefon beurteilt, weiss ich nicht. Ebenso wohlklingend geht es weiter. „Du wirst bald deine neue Liebe kennenlernen. Auf dem Friedhof. Sie ist Witwe und besucht das Grab ihres Mannes.“ Puh, denke ich, die Esmeralda geht aber ran.

Statt auf die Karten und die Sterne zu blicken, wenden wir uns nun der Praxis im Wahrsagerinnen-Gewerbe zu.  Es ist in Frauenhand, Männer sind selten. Alle meine vier Anfragen werden zuerst von einer Vermittlerin  entgegengenommen und dann weitergeleitet. Dies bedeutet: Wenn ich verschiedene Telefonnummern wähle, komme ich nicht zu den in den Inseraten angekündigten Frauen, sondern zu einer zentralen Stelle, welche die Ratsuchenden nach eigenem Gutdünken verteilt.

Herzensdinge sind schwabbelig

Ein Grossteil der übersinnlichen Damen scheint im Ausland daheim zu sein: Alle vier kommunizieren akzentfrei hochdeutsch und verwenden Ausdrücke, die bei uns nicht üblich sind, TÜV zum Beispiel. Anzugeben habe ich das Geburtsdatum, eine will den genauen Zeitpunkt wissen.

Zurück zum Test. Die Ergebnisse des Quartetts im Vergleich: Mal werde ich eine mir bisher unbekannte Frauen treffen, mal kenne ich die Dame bereits. Erst in acht Wochen passierts, sagt die eine, bei den drei anderen geschiehts schon bald.  Übereinstimmung sieht anders aus. Nun, ja, Herzensdinge sind halt schwabbelig und schwer zu fassen.

Valentina kennt sich auch bei Autos aus

Darum habe ich in meinen Selbstversuch was Handfestes eingebaut. Ich muss, so die Vorgabe, mein Auto prüfen lassen und kann das Datum selbst festlegen. Wann stehen die Chancen am besten, dass ich möglichst ungeschoren davonkomme, frage ich die Kartenlegerin  Rosalia und die Astrologinnen Luisa, Esmeralda und Valentina.

Für die Voraussagen der drei gibt es einen treffenden heimischen Ausdruck: „Chrüsimüsi“. Der Ernst meiner Studie (Achtung Ironie) verlangt, dass ich die Resultate säuberlich aufliste. Rosalia weiss, dass mir die Fahrzeugexperten jeweils am Dienstag wohlgesinnt sind. Gemäss Esmeralda soll ich möglichst schnell handeln. Valentina empfiehlt, den Wagen erst in zwei Wochen vorzuführen. Wie alt das Auto sei, fragt sie. Zehn Jahre. „Da wird einiges zusammenkommen.“ Offenbar kennt sich nicht nur bei den Sternen aus, sondern weiss auch, dass angejahrte Fahrzeuge Macken haben. Bleibt noch Luisa. „Unbedingt vor August vorführen“, rät sie.

Die Nachfrage ist gross

Kuppeln wir die Ratschläge zur Zweisamkeit mit den automobilen Empfehlungen zusammen, kommen wir zu einem vernichtenden Urteil: Schrott. Das überrascht nicht. Selbst wer dem Übersinnlichen Verständnis entgegenbringt, betrachtet die Heftli-Szene skeptisch. In wenigen Minuten per Telefon Lebensfragen zu beurteilen ist unseriös. Doch: Die Annoncen-Plantagen (und Internet-Angebote) zeigen, dass die Nachfrage gross ist.

Es ist wohl so wie bei den Horoskopen in den Medien: Man liest sie, man schmunzelt, man hat Gesprächsstoff. Allerdings birgt das hier beschriebene Prognosen-Gewerbe auch Stolpersteine. Die grossen: Wer den Voraussagen vertraut und seine Entscheidungen darauf aufbaut, kann böse auf die Nase fallen. Die kleineren: Die Bezahlnummern rentieren durch lange Telefonate.

Schwurbeln bringt Geld

Ich habe bemerkt, dass meine Visionärinnen gerne und ausführlich schwurbeln. Zeit ist Geld. Als Astro- und Karten-Skeptiker verstand ich kaum was von ihrem Wortschwall. Ich musste meine Gesprächspartnerinnen immer wieder zu meinen Fragen zurückbugsieren. Immerhin: Wenn ich aufhören wollte, beendeten sie die Unterhaltung anstandslos. Meine vier Telefone kosteten zwischen 12 und 16 Franken.

Engel- und Jenseitskontakte, Holzorakel, Karma- und Seelenreinigung. Die Wahrsagerinnen und Hellseherinnen werben mit feinstofflichem Gesumse. Um diesen Schwulst etwas mit Hand und Fuss entgegenzusetzen, frage ich am Schluss nach was Eindeutigem: Wer wird an der aktuellen Fussball-EM den Pokal nach Hause tragen? Drei Frauen entziehen sich dem Problem. Eine, Rosalia, nach einigem Zögern: „Deutschland“.

 

Unterdessen haben wir erfahren, dass die Sterne nicht wissen, wie der Ball rollt.

Hinter den 901er Nummern steckt oft die gleiche Vermittlung.  Anrufende landen damit nicht bei den ausgewählten Wahrsagerinnen. Hellsichtigkeit und Transparenz sind offenbar nicht das Gleiche.

Viele Kartenlegerinnen verwenden auch heute noch die 200-jährigen Lenormand-Motive.