seniorweb, 3. September 2021
Museen, Moneten. Und Menschen am Rande
Frankfurt hat himmelwärts strebende Monetentürme, 37 Museen – und die höchste Kriminalitätsrate Deutschlands. Die Metropole am Main erfreut mit viel Kultur, protzt mit viel Geld und
leidet unter viel Zwielicht. Ein Besuch in der Stadt der Gegensätze.
Dass Frankfurt eine Geldstadt ist, sieht man an den gigantischen Hochhäusern. Dass Frankfurt eine Museumsstadt ist, sieht man am offiziell so bezeichneten Museumsufer am Main. Hier haben 15
solche Institutionen ihren Sitz. In der Stadt mit 765’000 Einwohnern ergänzen und konkurrenzieren sich insgesamt 37 Museen. Tönt nach viel, doch die Schweizer Städte können mithalten: Zürich hat
55 Museen, Basel 40 und Bern 22 Museen.
Moneten und Museen – und zusammen mit Berlin die höchste Kriminalitätsrate Deutschlands, relativ gesehen. Die Zustände im Frankfurter Bahnhofsviertel illustrieren die düsteren Zahlen. Nur
schlecht versteckter Drogenhandel im Kleinstformat, sprich: „Willst du Crack?“, Obdachlose in Hauseingängen, Bettler mit vielfältigen Sammelmethoden. Das Strassenbild dazu: Internet-Cafés,
Spielcasinos, Mucki-Buden, Bling-Bling-Läden, Alki-Kotze auf dem Asphalt.
Spannende B-Liga
Düster also. Drum rüber über den Holbeinsteg ans andere Main-Ufer. Dort lädt eine Pop-up-Bar zum ziemlich sauren Äppelwoi ein. Und zum Gedankenflug über die Museumslandschaft. Die grossen Häuser,
die international bekannte A-Klasse, kommt oft ähnlich daher. Kunst-Affine jetzt bitte Zähne zusammenbeissen oder wegschauen: Hundert Meter alte Meister bedeuten halt häufig Langeweile.
Die B-Liga, jene der thematischen Häuser, ist oft überraschender und für Technik- und Geschichtsinteressierte spannender. Das gilt für meine erste Station, das Museum für Kommunikation. In Bern
haben wir sowas auch. In vielem gleichen sich die beiden Institutionen, viele Geräte, gut präsentiert, mit viel Interaktivem zum Zupacken und Ausprobieren. Immerhin hat das Frankfurter Haus ein
paar Exponate zum Schmunzeln, die Fernsehtruhe „Claudia“ und die gigantische Konzerttruhe „Kuba“, beide aus den Fünfzigern, beide all in one, TV, Plattenspieler, Tonbandgerät, Radio und, wichtig,
Hausbar.
„Briefe ohne Unterschrift“
Eher nachdenklich als schmunzelnd gehe ich durch die aktuelle Sonderausstellung „Briefe ohne Unterschrift“ (bis 5. September). Solche Schreiben schickten DDR-Bürger aus Ostberlin an die
deutschsprachige Radiostation der BBC im Westteil der Stadt. Sie dokumentierten so ihren Ärger mit den Zuständen im Arbeiter- und Bauernstaat. Der Westsender benutzte dieses Material gerne als
Waffen im Kalten Krieg. Ein Stahlarbeiter etwa kritisierte die Mangelwirtschaft in seinem Volkseigenen Betrieb. Die Produktion stocke laufend, weil die realsozialistischen Planer den Nachschub
verschlampen würden.
Wenige Meter weiter liegt das Deutsche Architekturmuseum. Ich bleibe nur kurz – und ärgere mich. Weil sich ein längerer Aufenthalt nicht lohnt, hier nur das Besucher-Telegramm: Mürrisches
Personal, viel zu viel Text, viel zu wenig Licht, viele zu viele Vitrinen. Eine Schulklasse besucht die Räume. Wohl kaum aus Interesse, sondern weil der Stundenplan sie zwingt.
Schön-schauriger Thrill
Begeisterter hätten die Jugendlichen wohl im Deutschen Filminstitut und Filmmuseum die Sonderausstellung „Katastrophe“ angeguckt (bis 9.Januar). Die Ausstellungsmacher präsentieren unter anderem
Ausschnitte aus frühen und aktuelleren Werken, „Erdbeben“ (1974) etwa und „Crawl» (2019). Sie beweisen damit den technischen Fortschritt in dieser Branche. Sie zeigen aber auch, dass der
schön-schaurige Thrill nicht allein von der Tricktechnik abhängt. Wichtiger für den Gourmet-Schrecken im weichen Kinosessel oder auf dem Kuschelsofa zuhause ist die Dramaturgie des Horrors.
Das Museum ergänzt die Klassiker-Streifen mit Utensilien aus dem Requisitenlager, mit Schutzanzügen etwa. Beeindruckend sind die Video-Statements von Wissenschafterinnen und Experten. Nein, so
erfahre ich, die Menschheit wird wohl nicht durch einen Super-Meteoriten ausgelöscht. Sondern eher durch langsame Veränderungen. Die Dinosaurier sind auch nicht über Nacht ausgestorben. Der
Klimawandel lässt grüssen.
Radikal-hessischer Dialekt
Die Katastrophenfilme zeigen Beklemmendes, Frankfurts Strassen ebenfalls: Alkis, Bettler, Obdachlose. Darf man das Elend zeigen? Verletzt man Privatsphären? Bin ich mit der unauffälligen
Handy-Kamera ein Randständigen-Spanner? Ja. Aber in dieser Stadt ragen einerseits Monetentürme in den Himmel. Und existieren andererseits so viele Menschen am Tiefpunkt des Lebens. Dieser
Kontrast charakterisiert Frankfurt und ist zu dokumentieren.
Vorerst bin ich erfolglos. Die Alkis vor dem Bahnhof drohen mit der Faust, als ich sie fotografieren will. Die Reihenfolge war dumm. Besser hätte ich mit einem Gespräch angefangen. Die Bettlerin
nimmt das Eurostück und zuckt mit den Schultern, als ich sie ablichte. Ausser „Geld, bitte, Hunger“, spricht sie kein Deutsch. Etwas ergiebiger ist das Punk-Paar mit Hund. „Scheissstadt, alles
kaputt“, entnehme ich dem alkoholumnebelten radikal-hessischen Dialekt der beiden.
Das Jüdische Museum präsentiert sich zum Teil in einem preisgekrönten Neubau (links) und in den restaurierten Räumen des Palais der Familie Rothschild. Bilder Stefanie Kösling/zvg
Kontrollen wie im Flughafen
Frankfurt heute, das sind die Gegensätze zwischen Protz und abgehängten Menschen. Frankfurt einst war eine Stadt, in der Juden eine grosse Rolle spielten, in der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur
und Gesellschaft. An diese Vergangenheit erinnert das Jüdische Museum. An die problematische Gegenwart erinnert der Streifenwagen vor dem Haus und die Personenkontrolle vor dem Eingang. Wir
kennen es vom Flughafen: Handy, Gürtel und Schlüssel gehen separat durch die Schleuse. Das Museum zeigt detailreich und gut aufbereitet die jüdische Welt in Deutschland. Zu kurz kommen die Leiden
durch die Nazis: die allmähliche Entrechtung, die Verfolgung, Deportation und die Schrecken des Holocausts.
Mein letzter Abstecher hinter Frankfurts Fassade verläuft halb anekdotisch, halb dramatisch. Ich stecke einer Gruppe von bettelnden Roma-Frauen einen Zehn-Euro-Schein hin und will fotografieren.
Sie nehmen das Geld und rennen davon. Später nähert sich die Schar wieder. Sie wollen Geld, mehr Geld. Schimpfend läuft die Truppe mehrere hundert Meter hinter mehr her. Schliesslich bleibt eine
einzige Frau übrig. Sie bietet „fickie, fickie“. Ich verzichte.
Ein Teil der Museen in der Frankfurter Innenstadt: 1 Museum für Moderne Kunst im Tower – 2 Jüdisches Museum – 3 Archäologisches Museum – 4 Struwwelpeter-Museum – 5 Museum für Moderne Kunst – 6 Dommuseum – 7 Junges Museum – 8 Museum Judengasse – 9 Ikonenmuseum – 10 Museum für angewandte Kunst – 11 Weltkulturerbe-Museum – 12 Museum für Kommunikation – 13 Filmmuseum – 14 Architekturmuseum – 15 Städler-Museum – 16 Liebighaus – 17 Museum Giersch.
Bild Google Maps/Peter Steiger