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Kunst ausserhalb der Schubladen
Noch bis am 26. Januar 2024 stellen Kunstschaffende
aus der Kunstwerkstatt Waldau im Kulturpunkt im Berner Progr aus. Wie soll man ihre
Werke bezeichnen? Art brut? Outside Art? Am besten einfach als Kunst ohne
Grenzen.
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Sonia Straub mit zwei
ihrer Werke ►
Sonia Straub strichelt. Mit schwarzer Tusche und der Schreibfeder setzt sie tausende
mal feine, mal dickere Linien aufs Papier. Und Sonia Straub hütet. Sie arbeitet an
ihrem Werk und beaufsichtigt gleichzeitig die Ausstellung "Best of" im Kulturpunkt im
Berner Progr. Sie zeigt hier mit fünfzehn Kunstschaffenden aus der Kunstwerkstatt
Waldau und mit Raphael Reift ihre Arbeiten. "Nein", sagt Sonia Straub, "dieses
minutiöse Zeichnen strapaziert nicht meine Geduld. Im Gegenteil. Es hat was
Meditatives."
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Sonia Straub hat mit Rebecca Schmid und Claude Haltmeyer, dem Betreiber von
Kulturpunkt, die Ausstellung kuratiert. Auch Schmid gehört zum Kunstwerkstatt-Team.
Anlass zur Ausstellung ist das 20-jährige Bestehen der Kunstwerkstatt. "Best of"
heisst die Ausstellung. Superlative sind ein Versprechen. Einlösen wollen es Emma
Baya, Jann Briner, Regina Eichenberger, Martin Flückiger, Elmar Hempel, Adrian Lanz,
Caroline Mas, Tom Mosimann, Anita Nydegger, Raphael Reift, Heinz Ruch, Flo, Rebecca
Schmid, Dorota Solarska, Sonia Straub, WomB.
▼ Rebecca Schmid mit "Beauty and the Beast".
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Die Kunstschaffenden organisieren sich selber
In den konventionellen Galerien liefert der Künstler die Werke ab, die Galeristin wählt
aus und beide bestimmen zusammen die Preise. Die Galerie besorgt alles weitere. Bei der
aktuellen Ausstellung im Kulturpunkt funktioniert dies anders. Die Kunstschaffenden,
vertreten durch Rebecca Schmid und Sonja Straub, übernehmen mehr Verantwortung und
organisieren zum Bespiel den Hütedienst. Jeden Nachmittag von Donnerstag bis Samstag
ist ein Künstler, eine Künstlerin anwesend.
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Vor der Vernissage am 15. Dezember 2023.
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An der Vernissage im Kulturpunkt im Progr.
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Mehr Geld für die Ausstellenden
"Best of" ist eine Verkaufsausstellung. Die Preise liegen zwischen 250 und 1800
Franken. Herkömmliche Galerien hocken aufs Maul, wenns um ihre Beteiligung am
Verkaufserlös geht. Immerhin gilt als gesichert, dass zwischen 50 und 60 Prozent in der
Galerie bleiben. Kulturpunkt und die Kunstschaffenden sind transparenter. 10
Prozent vom Werkerlös gehen an die Kunstwerkstatt Waldau. Wer dort an einem
Förderprogramm teilnimmt, muss zusätzlich weitere 5 Prozent abtreten. Der Kulturpunkt
erhält 30 Prozent und bezahlt damit unter anderem die Agendaeinträge in den Medien und
den Flyer. Die Kunstschaffenden erhalten hier also mehr.
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Offen: Bis 26. Januar 2024. Donnerstag und Freitag, 14 bis 18 Uhr;
Samstag 14 bis 17 Uhr. Eintritt frei. Galerienwochenende 13. und 14
Januar, 11 bis 17 Uhr. Finissage 26. Januar 16 bis 19 Uhr, 18 Uhr
Lesung mit Dorota Solarska, Raphael Reift und Rolf Schulz (Performner), Kollekte.
Kulturpunkt im Progr, Speichergasse 4, 3000 Bern.
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Das Progr war ein Schulhaus. Heute sind hier Ateliers, Veranstaltungslokale und
Gastgewerbe.
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Der Hof ist vor allem iin den warmen Monaten ein beliebter Treffpunkt.
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Weniger Halligalli als bisher, dafür mehr
Kultur
Der Progr will künftig weniger als Teil der Berner Ausgehszene wahrgenommen werden und
möchte vermehrt als Kulturlokal in Erscheinung treten.
Das 1885 erstellte Gebäude wurde erst als Gymnasium genutzt. 1926 zog die Schule in
einen neuen Bau im Kirchenfeldquartier. Das Haus in der Berner Innenstadt diente nun
als Primarschule und Untergymnasium (Progymnasium, "Progr"), Später kamen weitere, auch
Berufsschulen dazu. Nach dieser schulischen Nutzung entstand ab 2004 ein vorerst
provisorisches Atelier-, Kultur- und Veranstaltungshaus. Seit 2009 gehört das Progr
definitiv zum Berner Kulturbetrieb. In den letzten Jahren hat sich das Prog immer mehr
zu einem Ausgehort verändert. Die Stiftung Progr, die das Künstlerhaus verwaltet, will
sich nun mit einem neuen Konzept mehr auf kulturelle Angebote ausrichten.
Der Progr liegt nahe bei Berns Ausgehmeile, der umstrittenen Aarbergergasse, und nahe
bei der vieldiskutierten Reitschule: Um es zurückhaltend zu formulieren: Das verwirrt
manche, die mit der Kulturszene wenig und mit der Partyszene gar nichts am Hut haben.
Das Progr ist zum Teil selbst schuld an dieser Zuordnung. Der Ort ist gegen aussen zu
einem Teil des nächtlichen Ausgehbetriebs geworden. Die Stiftung Progr will denn auch
korrigieren und das Kulturangebot stärker in den Vordergrund rücken.
Abendbesuch der Kulturwerkstatt im Progr. Wir lassen einen Bekannten vorangehen und
nennen ihn Ändu. Mit Kultur hat er nicht viel am Hut. Ändu ist 40 und damit im reiferen
Ausgehalter. "Ich gehe gerne ins Progr", sagt er. Verglichen mit der Aarbergasse sei es
ruhig. "Gute Leute, keine Gewalt." Der bedeutend ältere Verfasser dieses
Werkstattbriefs bestätigt Ändus Einschätzung. Der Geräuschpegel ist mitunter hoch, die
Ambiance trotzdem zurückhaltend, die Konsumationspreise ebenfalls.
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Im Progr gabs einst Gomere, Physere, Gogere
Dialekt in die Bundesstadt holen, ist wie Bären nach Bern bringen. Aber vielleicht hats
ja unter der Werkstattbrief-Leserschaft, Leute, die sich nicht mehr so genau an ihre
Schuljahre erinnern.
Seit bald zwanzig arbeiten Kunstschaffende im Progr, dem ehemaligen Progymnasium. Bis
in die Sechzigerjahre lernten hier elf- bis zwölfjährige Schülerinnen und Schüler.
Viele waren stramme Bernerinnen und Berner. Mit dem entsprechenden Mundwerk.
Wir gehen auf Zeitreise in die Sechziger und treffen vor dem Progr-Haupteingang auf
zwei Modis und zwei Giele. Einer ist Hene (Heinz). Heute morgen hat er Gogere
(Geographie). Vanä (Vanessa) blickt mürrisch. Handsche (Handarbeiten) steht auf ihrem
Stundenplan. Sebe (Sebastian) hats gäbig. Er hat eine Zwischenstunde und steuert die
Biblere an (Bibliothek). So ein Streber. Fräne (Franziska) ist gut gelaunt. Sie hat
alle Ufere (Haus-Aufgaben) gemacht und der Vormittag macht ihr keine Sorgen.
Gomere-Leischt (Geographie-Lehrer) Abächerli ist eine Gmüetsmore. Nachher
allerdings wirds struber: Physere (Physik).
* OmG, oh my God, Jugendsprache, wird angewendet für - alles.
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Die alte Scheune wird von den Künstlerinnen und Künstlern der Werkstatt als
gemeinsames Atelier benutzt.
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Auf dem Waldau-Gelände, aber unabhängig
Der Verein Kunstwerkstatt besteht aus über 40 Kunstschaffenden und über 185
Mitgliedern. Die Kunstwerkstatt ist jede Woche an mehreren Halbtagen geöffnet;
Kunstschaffende verbringen jährlich etwa 5000 Stunden hier. Die Kunstschaffenden
vereint, dass sie Psychiatrieerfahrung haben. Der Verein stellt sämtliche
Materialien unentgeltlich zur Verfügung. Freiwillige betreuen das Atelier. Es liegt auf
dem Gelände der Universitären Psychiatrischen Dienste Waldau (UPD). Der Verein ist aber
unabhängig von der UPD.
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Konzept und Text: Peter Steiger. Fotos: Ruedi Franz, Martin Bichsel, Peter
Steiger.
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