Berner Zeitung, 19.09.2011

AusSteiger

Wir fordern 25 Stunden

Rentner haben viel Zeit. Falsch. Viel zu wenig haben sie. Nein, ich meine nicht die Enkel, den Garten oder den Hund. Sondern die Pflege des Körpers und des Geistes. Beides fit zu halten, ist im Alter entscheidend. Aber zeitraubend.


Es beginnt mit dem Zähneputzen. Die Dentalhygienikerin mahnt: gründlich, intensiv, lange. 3 Minuten müssen es jeweils sein. Beim Aufstehen, nach jedem Essen und abends sind das einschliesslich Logistik täglich 60 Minuten.

 


Dann folgt Rückengymnastik. Sie hilft gegen das Leiden, das die Senioren nach dem langen Liegen befällt. Der Physiotherapeut beharrt auf 20 Minuten. Hin und her, auf und nieder, das freut die Wirbelsäule und verschafft Appetit aufs Frühstück. Doch: Nur wer lange kaut, macht den Magen glücklich. Wenn das Brot im Mund Zusatzrunden dreht, dauert das Essen länger, 40 Minuten im Tag.


Yoga hellt die Stimmung auf, die einem den Zmorge vermiest, wenn man die Zeitung studiert. Und dabei erschauert. Niedertracht allüberall. Niedergeschlagenheit dito. Yoga vertreibt die düsteren Wolken. Doch Chakren büschelt man nicht im Handumdrehen. Sondern in 40 Minuten. Mens sana in corpore sano, übersetzt: Mensch, beweg dich.


Also joggen, biken, hiken. Mit An- und Ausziehen und Duschen dauert das 90 Minuten. Wer sich nachher nicht dehnt, den bestrafen die Gelenke: 20 Minuten Stretching also. Weils unterdessen Mittag ist, fordert der Biorhythmus einen Power Nap, 15 Minuten Kurzschlaf genügen zwar, doch mit Vor- und Nachbereitung werden es 30.


Ist da noch was? Ach ja, Gedächtnistraining. Die 60 Minuten sind gut angelegt. Alts heimer gärn, Alzheimer nicht. Schliesslich noch ein paar Kleinigkeiten: Haare soll man nicht bloss kämmen, sondern bürsten und damit die Kopfhaut massieren: 10 Minuten. Gegen altersbedingte Kurzsichtigkeit hilft Augentraining, 20 Minuten lang nach links, recht, unten und oben gucken, und schon sieht die Zukunft heller aus. Noch lichter wird sie, wenn wir die trüben Gedanken mit Atemtherapie vertreiben. Bewusst ein- und ausatmen, nach 30 Minuten sind wir bessere Menschen.


Und vor dem Schlafengehen pflegen wir die Haut. Jawohl, auch wir Männer brauchen Körperlotions und Nachtcremen. Die 20 Minuten lohnen sich. Die Runzeln sagen Adiö, die Haut sagt Merci.


7 Stunden 20 Minuten dauert der tägliche Service. Weil stets was Zusätzliches anfällt, runden wir auf 8 Stunden auf. Berechnen wir weitere 8 Stunden für den Schlaf, 3 Stunden fürs Essen, 2 Stunden für den Haushalt, 2 Stunden für Enkel, Garten und Hund, kommen wir auf 23 Stunden.


Ausbalancierte Senioren haben also 1 Stunde zur freien Verfügung. Wenn das die Gewerkschaft wüsste.