Berner Zeitung, 11.02.2013

Vom Sterben und vom Leben darnach


Am Abend vor ihrem Freitod erkundigte sie sich, ob es in den nächsten Tagen wohl regnen wird.» Das erzählte mir ein Sohn, der seine Mutter in den Suizid begleitet hatte. Für einen grossen Artikel in dieser Zeitung konnte ich mit einem halben Dutzend Menschen sprechen, die ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrem Mann auf diesem letzten Weg zur Seite standen.


Small Talk. Fast am meisten getroffen hat mich die Gelassenheit, mit der die Sterbewilligen in den Tod gingen. Eben: das echte oder vorgespielte Interesse an der Wettervorhersage. Ein weiteres Beispiel: Eine Mutter wollte wissen, mit welchem Zug ihre Tochter heimfährt, wenn sie, die Mutter, in zwei Stunden tot sein wird. Small Talk, um das Grauen zu überdecken? Eher glaube ich, dass die Mutter ihre Kinder bis über ihr Ableben hinaus schützen wollte.


Vulgärpsychologie. Eine handgestrickte Erklärung, gewiss. Aber zu den letzten Fragen hat eh niemand eine wirklich schlaue Antwort. In Deutschland hat eine Uni untersucht, wie Menschen den Suizid eines Angehörigen verarbeiten. Wie bewältigen sie es, ihre Mutter, ihren Gatten sterben zu sehen? Offenbar reagiert jeder Fünfte, der dies erlebt hat, mit einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung, das heisst, mit Albträumen, Schlafstörungen oder mit übertriebener Schreckhaftigkeit.


Nahtod-Geschichten. Keiner der von mir Befragten litt unter solchen Beeinträchtigungen. Das mag Zufall sein, vielleicht wollten sie es mir auch nicht sagen. Alle schilderten den Tod als Befreiung und die Stunden vorher als leidlich entspannt. Darum passt nochmals eine Nahtod-Geschichte hierher. Es ist eine, bei der man nicht weiss, ob man weinen, lächeln oder lachen soll.


Sodbrennen. Die Ehefrau ging mit ihrem vom Krebs gezeichneten Mann ein paar Stunden vor seinem Freitod essen. Viel mochte er nicht mehr zu sich nehmen. Auch beim Dessert zögerte er. «Du weisst ja», sagte er, «von Ofechüechli bekomme ich am nächsten Tag immer Sodbrennen.»