Berner Zeitung, 18.11.2013


Frau S. im Pflegeheim schweigt


Das Bett von Frau S. steht am Fenster des Zweierzimmers. Nein, sie wolle nicht allein wohnen, sagt sie. Hier sei mehr los. Es riecht immer etwas nach Urin. Leicht, aber unangenehm. Frau S. hat einen Schrank und ein Nachttischchen mit Schubladen. Am Schrank kleben Postkarten, Feriengrüsse.

 

Die Neunzigjährige hat früher viel gelesen. Jetzt kann sie nicht mehr. Die Augen. Oft sitzt sie auf dem Stuhl neben dem Bett und schaut hinaus. Auf die Bahnlinie, die Wohnüberbauung, die Berge.

 

Der Besuch bringt Frau S. mit dem Rollstuhl in die Cafeteria. Dort sitzen sich die beiden oft lange schweigend gegenüber. Sie hat nicht viel zu erzählen. Im Heim geschehe ja nie etwas. Und von früher will sie nichts mehr erzählen. Weil der Besucher schon alles weiss. Und sie vieles durcheinanderbringt. Das ärgert sie. Drum schweigt sie. Er sagt nichts, weil er nicht weiss, ob sie ihn versteht. Sie trinkt Kaffee und isst ein Weggli. Weil das weich ist. Im Sommer schiebt er sie mit dem Rollstuhl durch den Garten. Das macht er gern. Da hat er etwas zu tun.


Früher hat sich Frau S. viel mit Kunst und Literatur beschäftigt. Auch mit Politik. Als der Besucher sie auf die kommenden Wahlen hinweist, hebt sie die Hand und sagt «Ach». Dann schweigt sie. Nach einer Pause: «Bring das nächste Mal einen Kalender mit Büsibildern.»


Oft sitzt Frau S. mit anderen Bewohnern in der Eingangshalle. Man könnte meinen, dass das Rollstuhlgeschwader jemanden erwartet. Aber es kommt niemand. Alle blicken in die gleiche Richtung, nach draussen. Dort fährt hin und wieder ein Auto vorbei. Das Heim ist eine Seniorenresidenz und hat ein Qualitätslabel. Zu Recht. Es ist nicht nur sauber. Auch das Personal ist freundlich und meist sogar fröhlich. Auf der Website steht, dass hier die Pensionäre ihre Würde behalten sollen. Stimmt. Niemand nimmt sie ihnen weg. Aber man kann sie auch einfach verlieren, vergessen wie einen Handschuh.

 

Frau S. war meine Mutter. Sie starb nach einem halben Jahr im Pflegeheim. Ich habe Angst.