Berner Zeitung, 29.12.2014
Nur wer alt ist, hat was zu erzählen
Hallo, alter Herr, wie wärs mit etwas Kleingeld?» So sprach mich kürzlich ein Bettler an. Eine Fachkraft wars. Der Mann verstand sein Metier. Er sass neben einem Bankomaten. Und er hatte einen
jungen Hund dabei, den er sorgsam in eine Decke gehüllt hatte.
Der demonstrative Tierfreund sprach Hochdeutsch. Woraus ersichtlich ist, dass auch in diesem Bereich Schweizer von gut qualifizierten Ausländern bedrängt werden. Seine
Geschäftstüchtigkeit beeindruckte mich. Ausserdem war ich weihnächtlich milde gestimmt. Trotzdem gab ich ihm nichts. Weil er mich als alt eingestuft hatte.
Dabei hatte ich einen solchen Fauxpas auch schon gemacht. Allerdings in umgekehrter Richtung. Vor vier Jahren hatte ich zwei Gespräche mit dem unterdessen verstorbenen Georg
Kreisler. Der Wiener Kabarettist und Autor kam für einen Auftritt in die Cappella nach Bern.
Bühnenleute zu interviewen, ist oft unergiebig. Vor allem Schauspielerinnen und Schauspieler wissen von Berufes wegen, wie sie einen guten Eindruck machen können. Sie geben den
netten, überhaupt nicht arroganten Gesprächspartner. Kurz: Sie wickeln dich um den Finger. Kommt dazu, dass diese Profis ein gut assortiertes Set von mal heiteren, mal tiefsinnigen Gedanken
auswendig gelernt haben.
Kreisler war anders. Er war ja auch kein besonders guter Schauspieler. Aber ein brillanter Autor, Kabarettist, Parodist und Musiker. Und er war ein hinreissender Erzähler. Als
solchen lernte ich ihn am Tag nach seinem Berner Auftritt kennen. Er beschrieb seine Zeit in Amerika, wohin er als Jude 1938 emigrierte und wo er sich einbürgern liess.
Er erinnerte sich an die Zeit kurz nach dem Krieg. Als US-Soldat verhörte er für die Nürnberger Prozesse unter anderem Hermann Göring. Ich vernahm, wie er später wieder in Europa
mit seinen bösen Liedern aneckte – auch in Bern übrigens.
Am Schluss machte ich jenen Fehler, über den ich mich noch heute ärgere. «Sie wirken wie ein Junggebliebener», sagte ich zum 88-Jährigen. «Schauens», erwiderte er, «wenn ich jung
geblieben wäre, hätten Sie mir kaum so lange zugehört.»