Berner Zeitung, 10.08.2015
Romeo und Julia müssen sterben, wir müssen bloss auf die Toilette
Wieder mal den alten Rührschinken «Titanic» gesehen. Wenns im Hochsommer so heiss ist, hat man gern was Flüssiges, Tränen. So, wie die im Film, möchte ich auch leben, dachte ich. Nein, nicht
wegen der schönen Kate Winslet oder dem schönen Leonardo DiCaprio, den schönen Kleidern oder dem schönen Schiff. Auch ist der Schluss ja irgendwie suboptimal. Sondern weil in diesem Film das
Leben so zügig vorankommt.
Keine Langeweile, keine Warterei, keine Staus. Kate Winslet fährt nie abends um halb sechs auf der Bernstrasse von Worblaufen nach Zollikofen. Leonardo DiCaprio steht nie am Samstagmorgen im
Zähringer-Migros in der Kassenschlange. Unser Leben ist ja so langweilig, weil wir nicht wie im Film die nervtötenden Wiederholungen herausschneiden können.
Wäre dies möglich, würde auch mein Leben ein Blockbuster wie «Titanic». Beginnt hochspannend mit der Szene, als ich dem Chef die Meinung sagte. Dann zack, Schnitt, die hochemotionale Szene mit
dem Sonnenuntergang hinter dem Faulhorn. Und jetzt zack, Schnitt, die hocherotische Szene, als ich, na ja, lassen wir das.
Aber leider gibts in unserem Leben keine Schnitte, nur banale Reprisen. Die da, die Winslet, steigt frisch frisiert und geschminkt und vermutlich wohlriechend aus dem Bett, bereit für den da, den
DiCaprio. Und wir? Wir müssen höchstens auf die Toilette. Oder die zwei bei den Thunerseespielen: Der Romeo und die Julia haben es ja wirklich nicht leicht, zueinanderzufinden. Aber die beiden
haben bloss Knatsch mit den Eltern und mussten für ihre Treffen nie einen Parkplatz suchen oder sich morgens um halb acht durch den überfüllten Berner Hauptbahnhof drängeln.
Die machen Drama. Wir machen Alltag. Und wenn unsereins mal was Hochdramatisches erlebt, passt es garantiert nicht in eine gute Story. Da war doch dieser Zeckenstich. Zwei Wochen später führte er
zu einer Borreliose, die der Arzt mit einer Antibiotikaschwemme bekämpfte. Beim Joggen fiel mich das Tierchen an, als ich, nun ja, wie sagt mans bloss? Nichts fördert den Stoffwechsel so, so sehr
wie joggen. Ich musste im Morgengrauen dringend hinter den Büschen weit ab von jeder Zivilisation die Hosen runterlassen. Hochdramatisch dringend. Aber wer will das schon in einem Film sehen?