Berner Zeitung, 27.6.2016
Verbale Inkontinenz: Wir müssen reden
Jetzt ist die Saison der Gemeindeversammlungen zu Ende. In den vergangenen Wochen hat man ja manches mitund abbekommen. Wenn eine Teilnehmerin zum Beispiel ganz freundlich und harmlos fragt, was
der Schulhausumbau denn nun wirklich gekostet habe, und der zuständige Gemeinderat als Antwort einen halbstündigen Vortrag hält. Über Pestalozzi, die Pädagogik im Besonderen und im Allgemeinen,
die Bevölkerungsentwicklung, die geopolitische Lage und die Befindlichkeit der hiesigen Bauwirtschaft.
«Um zu Ihrer eigentlichen Frage zu kommen», fährt der Alleswissende fort. Aber da sind die Teilnehmer längst im mentalen Stand-by-Modus und denken wahlweise darüber nach, ob zu
Hause die Hecke geschnitten werden müsste oder der Sohn zum Schuljahresende wieder die gleich miserablen Noten heimträgt.
Solche Monologe sind Mannologe. Immer, fast immer, sind es Männer, die verbal zum Perpetuum mobile neigen. Die Journalistin Julia Baird verwendet dafür den griffigen Ausdruck
Manolog. Sie ist Australierin. Nonstop-Redner scheinen also rund um den Erdball gelangweilte Zuhörer zu nerven: bei Konferenzen und Meetings jeder Art, bei Infoabenden, Führungen, Besichtigungen,
Einweihungen.
In Gemeindeversammlungen gehen sie davon aus, dass sie mit ihrem Redeschwall die Stimmberechtigten überzeugen können. Oft haben sie leider Erfolg. Das Plenum schweigt. Nicht, weil die Argumente eingefahren sind, sondern weil die Teilnehmer fürchten, dass sie mit einer zusätzlichen Frage noch länger auf den Versammlungsapéro warten müssen.
Wenn die oralen Schliessmuskeln ausser Kontrolle geraten, nützen Windeln nichts. Gegen inkontinente Redner hat man im journalistischen Alltag bescheidene Erfolge, wenn man das
Notizbuch oder das Aufnahmegerät weglegt. Allgemein gilt: Handy gucken hilft ein bisschen, mit dem Nachbarn tuscheln wirkt besser, mit ihm laut reden ist noch effektiver. Am erfolgreichsten
stoppt man den Vortragenden, wenn man aufsteht und geht. So ist man den Schnuri endgültig los.