Berner Zeitung, 24. Oktober 2019
Rittmeyer und die Schweizer Zwerge
Bühne In der Stadtberner La Cappella enträtselte Kabarettist Joachim Rittmeyer die Schweizer Lebensart.
Die alten Bekannten sind wieder dabei: Theo Metzler, der Welterklärer, Hanspeter Brauchle, «warum einfach, wenns kompliziert auch geht», Jovan Nabo, der Musterschweizer mit ungarischem Akzent,
Linus Leupi, der Dichter und Befindlichkeitsaktivist. Neu ist Roman Zemp. Er ist Gastschläfer und hat eine beinahe stumme Rolle. Beinahe heisst: Er darf ab und zu grummeln. Und, natürlich:
Rittmeyer Joachim (68), Ostschweizer Kabarettist, seit 1974 auf der Bühne.
«Gastschläfer» ist ein lustiges Wort. Es weckt aber die Frage, ob der Schlummerer Mitschläfer im Publikum hat. Nein, hat er nicht. Aber bei der Berner Premiere in der La Cappella gab es ein paar
Rittmeyer-Sedierte. Sein aktuelles Programm «Neue Geheimnische» hat Phasen, die zum Wegdämmern verleiten. Zwei Stunden, einschliesslich der Pause, sind für ein Einmannstück halt etwas gar lang.
Beichtstuhl als Garderobe
Genug gemeckert. Der neue Rittmeyer ist wie der bisherige kein Schenkelklopfer, aber ein vergnüglicher Kabarettist mit Tiefsinngarantie. Wir erfahren etwa, wie die bedrängte katholische Kirche
den bedrängten Modeläden beistehen kann – indem sie ihnen die leeren Beichtstühle als Umkleidekabinen überlässt. Und wir sind dabei, wenn der wortmächtige Dichter Zemp seine Verse mit Rücksicht
aufs Publikum bis auf den Titel kürzt. Bei seinem letzten Programm «Bleibsel» hatte Rittmeyer mit den damals angesagten Videoeinspielungen gearbeitet. Jetzt verzichtet er darauf. Schadet nichts.
Bloss Rednerpult und Stuhl stehen nun auf der Bühne. Und die Liegestatt des Permaschläfers. Welchen dramatischen Zweck der Komapatient erfüllt, ist nicht ganz klar. Hinweis auf die Endlichkeit?
Stummer Gesprächspartner?
Zähne gezeigt
Rittmeyer ist der Superschweizer: unauffällig, unverdächtig, unumstritten. Natürlich stimmt das nicht mit der Realität überein. Aber das Vorurteil liefert dem Kabarettisten den Stoff für bunte
Übertreibungen. Warum duzen wir Tiere, fragt Rittmeyer. Eine Antwort gibt er nicht. Weil das Büsi unhöflich ist und nie Danke sagt, wäre eine mögliche Erklärung. Oder weil der Hund beim Knurren
die Zähne zeigt.
Damit sind wir wieder beim Humor. Fido zieht die Lefzen hoch, wenn er aggressiv ist. Wir Menschen entblössen die Zähne, wenn wir lachen. Humor und Aggression liegen nahe beieinander. Rittmeyer
zeigt dies bei seinen gut versteckten Angriffen auf uns als selbsternannte Zwerge in einer gottgefälligen Musternation.