seniorweb.ch, 24. November 2019

 

Statt behindert ist Lina Müller jetzt nur noch alt


Wenn sich die Behinderung im Alter verschlimmert oder erst nach der Pensionierung auftritt, geraten die Betroffenen zwischen Stuhl und Bank. Die IV ist nicht mehr, die AHV nur noch reduziert zuständig.

Lina Müller (Name geändert) war eines der letzten Mädchen, das Kinderlähmung erlitt. Die Infektionskrankheit Poliomyelitis erschreckte in den Fünfzigerjahren Kinder und Eltern und zwang manche Betroffene gar in die monströse „Eiserne Lunge“. In den Sechzigerjahren besiegte ein Impfstoff das Leiden in der westlichen Welt.

Die kleine Lina durchlebte eine mildere Form. Nach orthopädischen Korrekturen erfuhr sie eine beinahe normale Kindheit und Jugend. Sie wurde berufstätige Mutter und musste bis in ihr sechstes Lebensjahrzehnt wenig körperliche Einschränkungen hinnehmen.

Lücke im Sozialwesen

Dann zeigte sich, dass das Leiden doch nicht vollständig überwunden war. Lina Müller wurde schwächer und musste sich beruflich einschränken. In den Nullerjahren sprach ihr die IV eine Rente zu und bewilligte einen Handrollstuhl. Kurz vor der Pensionierung genehmigte die Versicherung einen Treppenlift und ermöglichte, dass die Wohnung teilweise barrierenfrei umgebaut wurde.

Bis hierher zeigt die Geschichte, dass das Schweizer Versicherungswesen funktioniert. Die IV kümmert sich um die Betroffenen. Aber nun kippt die Erzählung. Sie beschreibt im weiteren, dass in unserem Sozialwesen eine Lücke klafft. Es ist eine Grube, in die Behinderte tief und schmerzhaft fallen können.

Im Alter meist schlimmer

Der Graben öffnet sich, als Lina Müller das Pensionsalter erreicht. Statt von der IV erhält sie jetzt von der AHV eine Rente. Auch übernimmt die AHV die Kosten für die bisher von der IV bewilligten Hilfsmittel. Besitzstandsgarantie nennt man das. Tönt gut, hat aber einen Haken. Die AHV zahlt nicht mehr als eben diese Besitzstandsgarantie vorgibt. Problematisch ist das, weil sich Behinderungen im Alter meist verschlimmern. So auch bei Lina Müller. Sie benötigt einen elektrischen Rollstuhl und muss die Wohnung weiter umbauen lassen. Zusammen kostet das 32’000 Franken. Viel Geld also. Vor ihrem 64. Geburtstag hätte die IV die Rechnungen übernommen. Jetzt muss sie alles selbst bezahlen.

Unser Sozialsystem berücksichtigt nicht, dass Behinderungen im Alter meist fortschreiten. Und es vernachlässigt jene, die erst im Pensionsalter behindert werden. Ganz schliesst die AHV die Handycapierten zwar nicht aus. Aber die Leistungen sind viel kleiner als jene der IV und reichen bei weitem nicht aus, um die oft hohen Kosten zu decken. Lina Müller kann den Betrag aufbringen, aber die Rechnungen brauchen all ihre Reserven auf. Sie muss Ergänzungsleistungen zur AHV beanspruchen und kann sich nur noch das Allernötigste erlauben.

Zwischen Stuhl und Bank

Francesca Rickli hat ihre Doktorarbeit an der Universität Zürich diesem Thema gewidmet. Die Ethnologin hat während 16 Monaten über 30 Seniorinnen und Senioren besucht, begleitet, interviewt. Die meisten litten schon vor der Pensionierung unter Mobilitätseinschränkungen. Eine kleinere Gruppe wurde erst im AHV-Alter damit konfrontiert.

Gegenüber Seniorweb spricht Francesca Rickli von einer Zuständigkeitsfalle zwischen IV und AHV. Die ungenügenden Leistungen würden zu einer „zerbrechlichen Routine“ führen. Die Betroffenen nutzen Spitex, Mobilitätsdienste und die verbliebenen technischen Hilfsmittel. Fragil sei die Situation, weil auch Familienmitglieder, Nachbarn oder Partnerinnen nötig sind. Francesca Rickli: „Wenn zum Beispiel der Lebensgefährte stirbt, bricht dieses Gefüge auseinander.“

Zu früh ins Altersheim

Betagte wollen so lange wie möglich in der gewohnten Umgebung bleiben. Behinderte Betagte wollen das auch. Treppenlifte oder umgebaute Wohnungen würden dies ermöglichen. Doch an die hohen Kosten bezahlt die IV gar nichts mehr. Die AHV und die Altersinstitutionen unterstützen nur mit bescheidenen Beiträgen. Wer nicht genügend Geld hat, muss ins Altersheim, obwohl dies gar noch nicht nötig wäre.

Die IV will Menschen ins Erwerbsleben integrieren, die AHV die Existenz sichern. Diese Trennung ist veraltet. Sie widerspricht den Aufgaben, welche die Seniorinnen und Senioren heute übernehmen. Sie engagieren sich vielfältig, mit grossem Einsatz und kompetent als Freiwillige. Unsere Gesellschaft ist auf sie angewiesen. Das aktuelle Sozialsystem entwürdigt Menschen mit Behinderungen, vermindert deren Lebensqualität und entzieht der Allgemeinheit Ressourcen.

Von der Zuständigkeits- in die Armutsfalle

„Wir benötigen ein neues Konzept“, ist Francesca Rickli überzeugt. Die Politik habe diese Aufgabe bisher nur zurückhaltend wahrgenommen. Immerhin seien die Institutionen sensibilisierter. Die Nachfrage von Seniorweb bestätigt dies. Judith Bucher, die Medienverantwortliche von Pro Senectute, erklärt, dass bei der AHV mehr Flexibilität zu spüren sei. Als Beispiel nennt sie, dass die Altersversicherung die Beiträge für Hörgeräte heraufgesetzt habe. Allerdings bezahle die IV immer noch höhere Entschädigungen.

Behinderten droht nicht nur die Zuständigkeitsfalle, sie können überdies in ein Mittelstandsloch stürzen. Organisationen wie Pro Senectute unterstützen nur Leute mit kleinem Budget und wenig Erspartem. Wer dieses Limit überschreitet, erlebt ein finanzielles Desaster. Womit wir wieder bei Lina Müller sind. Rechnungen über ein paar zehntausend Franken drücken die gehbehinderte Frau hinunter aufs Existenzminimum.