seniorweb.ch, 10. März 2020
Rote Ohren für die Kritik an der roten Krawatte
Seit mehr als einem halben Jahrhundert schreibt Peter Steiger für Zeitungen. Im zweiten Teil der Serie berichtet er über die Siebziger und Achtziger: über die Tücken des Farbfernsehens,
des Quartierverkehrs und über schludrig geführte Archive.
1968 startete das Schweizer Fernsehen seine Farbsendungen. Mitte der Siebziger flimmerten schon in vielen Haushaltungen die neuen Geräte. Die Television war ein wichtiges Thema – auch in den
Zeitungen. Der Chefredaktor wünschte, dass Besprechungen von populären Sendungen bereits am nächsten Morgen erscheinen sollten. Ich war einer der Ersten (und Jüngsten), der sich auf dieses Wagnis
einlassen musste. Die Unterhaltungsshow „Am laufenden Band“, moderiert von Rudi Carrel, dauerte bis 22.00. Eine halbe Stunde später war Redaktionsschluss. Achtzig Zeilen in so kurzer Zeit, das
war sportlich.
Nun gut, ich lobte die Sendung. Um zu beweisen, dass ich was vom noch jungen Farbfernsehen verstand, bemängelte ich die Farbe der Krawatte von Rudi Carrel, zu rot, zu grell. Am nächsten Morgen
bekam ich vom Chef vor versammelter Redaktion einen gehörigen Anpfiff. Eine Qualitätszeitung dürfe sich nicht mit solchen Kinkerlitzchen aufhalten, kritisierte er. Ich habe mich seither nie
wieder an Krawattenfarben versucht – obwohl die Medien unterdessen weit kleinere Kinkerlitzchen zu Grossereignissen aufblasen.
Sturm und Drang und Rückwärtsgang
Ich habe gerne im Rotlicht-Milieu recherchiert. Ja, ich weiss: Drogen, Gewalt, Menschenhandel. Ich hab es anders erlebt: viel Biederkeit. Vielleicht war ich auch bloss blauäugig. Wahrscheinlich
haben sich die Verhältnisse nach der Wende gründlich verschlechtert. Hängengeblieben ist mir ein Erlebnis aus den Achtzigerjahren mit einer schon recht angejahrten Professionellen. Sie erzählte
mir ihre Lebensgeschichte. Edelnutte im In- und Ausland, jetzt laufe der Betrieb nicht mehr so gut. Sie sei nun Spezialistin für … ach, lassen wir das.
Berichten darf ich aber von jenem Freier mit dem grossen Truck. Mit seinem sperrigen Fahrzeug fuhr er zu ihr ins verwinkelte Quartier. Nachdem er mit seinem Geschäft fertig war, kam er mit seinem
Lastwagen nicht mehr hinaus. Polizisten halfen ihm. Was sie dabei dachten, ist nicht überliefert.
Zeitungen mit der Lizenz zum Gelddrucken
Stimmt: Den Printmedien geht es mies, sinkende Auflagen, weniger Inserate, Onlinekonkurrenz. Früher hatten Zeitungen die Lizenz zum Gelddrucken. Darum, so könnte man meinen, waren sie in den
Achtzigern besser. Falsch: Damals mussten sich die Journalistinnen und Journalisten mit lückenhaften Text- und unordentlichen Bildarchiven herumschlagen, mühsam Telexausdrucke verarbeiten und mit
Schere und Leim Manuskripte basteln.
Heute google ich oder benütze Mediendatenbanken und bin in Nullkommanix auf dem Laufenden. Wenn ich früher für eine Theaterbesprechung was über vergangene Inszenierungen wissen wollte, musste ich
in Bern zur Theatersammlung und mir das Gewünschte herauskramen lassen. Recherche wurde damit zur Feierabendbeschäftigung. Oder man liess es bleiben. Oder, schlimmer: Man fabulierte.
Jetzt wird es persönlich. In den späten Achtzigerjahren leitete ich ein Ausgehmagazin. Wir publizierten Vorschauen, zu Ausstellungen etwa. Die etablierten Museen lieferten Begleitmaterial. Da
konnten wir uns bedienen. Doch wenn eine Untergrundgalerie was zu vermelden oder das Tea Room Mätteli neue Aquarelle aufgehängt hatte, mussten wir uns anders behelfen. Und nun das Bekenntnis: Ich
machte mir zuweilen einen Spass daraus, im Kunsthistorikerjargon Unsinn zu produzieren: „Die farbdynamische Latenzwirkung beeinflusst das fiktionale Sein.“ Diesen Mumpitz hat nie jemand
beanstandet. Im Gegenteil: Ich erhielt sogar mal einen Brief eines Galeristen, mit dem er sich für die vertiefte Auseinandersetzung bedankte.