seniorweb.ch, 1. Februar 2022

 

Gendersterne für Bern, Barrieren für Behinderte

 

Wir bleiben vorerst auf dem Boden. Dann streben wir den Sternen zu, den Gendersternen. Meine Ehepartnerin ist Rollstuhlfahrerin. Kürzlich spazierten wir in Bern durchs Rohr. Auch die meisten Auswärtigen wissen, was das ist: die Ladenstrasse zwischen Bahnhof und Nydeggbrücke. Selbst wenn es bärndütsch strubusset oder chuttet flaniert man hier in den Lauben trocken. Das ist gäbig.

 

Weniger gäbig ist es für Rolli-Fahrerinnen und -Fahrer. Treppenstufen und Randsteine sind unüberwindbare Hindernisse. Zwischen dem Käfigturm und der Nydegg können Rolli-Piloten die Gassenseite nur an wenigen Orten wechseln: unten und oben, weiter beim Zytglogge und auf der Höhe des Rathauses. Wenn sie vom C&A zum H&M wollen, müssen sie mehrere hundert Meter weit fahren. Nicht so arg? Schon, aber Rampen für ein paar Stufen sind ja auch keine Jahrhundertbauwerke.

 

C&A&H&M gleich böser Konsumwahn? Nun ja, gemach, geschätzte Seniorweb-Leserinnen und -Leser. Gleich streben die Rollistin und ich Höherem zu. Nämlich der Kultur in Form des Berner Kunstmuseums. Hier gibt es Treppenlifte. Wir dürfen sie allerdings nicht selbst bedienen, „nur für Befugte“. Befugt ist das Personal.

 

Die unfreiwilligen Sesselkleber müssen für gewisse Ausstellungselemente den Warenlift benutzen. Das eröffnet uns neue Ansichten. Die Rollis fahren nämlich durch einen Teil des Museumslagers. Noch bis Mitte Februar ist eine Sonderausstellung Meret Oppenheim gewidmet. Viel Andrang, viele Exponate, zwischendurch viel Stress für das sonst sehr rollstuhlfreundliche Personal. Nun spazierenfahren wir weiter, durch die Altstadt und über die Kirchenfeldbrücke zum Berner Historischen Museum. Dort haben wir auf der Hinterseite über einen Lift die Stockwerke zu erklimmen. Na und? Ist ja nicht so schlimm.

 

 

 

Doch. Denn dass gewisse Säle ausschliesslich treppenfähigen Mitmenschen vorbehalten sind, ist übel. Nach dem Ausflug ins feingeistige Oberland kehren wir zwei zurück nach Hause. In unserem Quartier, dem Berner Rossfeld, gibt es Schul- und Wohnheime für Behinderte und ein Altersdomizil. Trotzdem müssen alte und junge Rollstuhl-Piloten lange Distanzen zwischen parkierten Autos hindurch auf den Strassen fahren.

 

Jetzt kommt der Nachruf auf die schlimme alte Zeit. Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten viel Gutes geschehen. Knackiges Beispiel: Früher wurden Rollstuhlfahrer in ungeheizten lärmigen Gepäckwagen durch die Schweiz geschüttelt. Das Behindertengleichstellungsgesetz, aber auch die Einsicht von Behörden, Firmen und Privaten erleichtern den Alltag. Trotzdem ist noch viel zu tun. Nichtbehinderte realisieren kaum, dass ein Randstein ein unüberwindbarer Wall für Rollis ist. Das ist nicht nur in Bern so. Auf der Liste der rollstuhlfreundlichen Orte hat die Bundesstadt sogar einen guten Platz.

 

 

 Nun zu den versprochenen Sternen, den Gendersternchen. Die Stadt Bern verwendet seit kurzem dieses Zeichen in ihren offiziellen Unterlagen, in Formularen, Informationen und Abstimmungsbotschaften zum Beispiel. Was die Aktion kostet, weiss ich nicht. Nachdem ich mich bei einer Baufirma schlau gemacht habe, weiss ich hingegen, wie teuer eine rollstuhlgerechte Trottoir-Absenkung ist. Nämlich bloss zwischen 3000 und 6000 Franken.

 

Ich lasse das jetzt mal einfach so stehen: Die wohl recht beträchtlichen Kosten für die Gendersternchen-Aktion im Vergleich mit jenen für rollifreundliche Trottoirabsenkungen.                                   Bildmontagen pst

 

Links: Seniorweb-Artikel zum Thema

Im Rollstuhl, aber nicht blöd

Statt behindert nur noch alt