seniorweb.ch, 18. Januar 2022
Uebers Jammern auf hohem Niveau
Diese Kolumne beginnt in der Vergangenheit und endet in der Gegenwart. Meine erste Ehefrau war Deutsche. Sie wurde 1944 in Pforzheim geboren. Ich nenne sie hier Sophia. Sie hiess anders. Ihr
Vater beendete den Krieg als Obergefreiter. Daraus lässt sich ableiten, dass er weder ein eifriger Soldat noch ein überzeugter Nazi war. Aus Polen brachte er Wodka nach Hause, aus Frankreich
Parfum. Aus Russland kam der Vater kaputt zurück, verwundet und mit malträtierter Seele. Nachts schrie er im Schlaf.
Am 23. Februar 1945 bombardierten fast 400 Flugzeuge Pforzheim und überzogen die Stadt mit einem Feuersturm. Sophias Mutter und mehr als ein Fünftel der Einwohner starben. Sophia überlebte, verschüttet, an der Seite ihrer toten Mutter. Das Mädchen kam in ein Heim, erlitt den Hunger- und Kältewinter 1947/48, spielte zwischen Ruinen und überstand trotz zusammengebrochenem Gesundheitswesen die üblichen Kinderkrankheiten.
Als Achtjährige brachte sie der Vater zu Verwandten nach Zürich. Dort wuchs sie auf. Ganz normal und angemessen pubertierend.
Kinder auf Schulweg durch das Trümmerfeld beim Hamburger Schaartor 1945.
Mädchen und Knaben in der ganzen Welt mussten mit ähnlich miesen Bedingungen starten. Zwar hatten viele gesundheitliche Probleme, litten unter Mangelernährung, manche auch unter psychischen Beeinträchtigungen. Die allermeisten Kriegskinder jedoch boxten sich mit Elan durch die Besatzungszeit. Sie lernten in bombengeschädigten ungeheizten Klassenzimmern. Sie wohnten in zerstörten Wohnungen. Und sie landeten unbeschadet in den zugegeben miefigen Fünfzigerjahren, zufrieden bis glücklich.
Nun zur Gegenwart. Kürzlich hat die Schule wieder begonnen. In vielen Kantonen müssen die Kinder ab der ersten Klasse Masken tragen. Sofort reagierten empörte Erwachsene. Eltern beklagen, dass kaputte Kinder in die Gesellschaft entlassen werden. Sie befürchten, dass die Entwicklung ihrer Sprösslinge leidet. Sie vermuten, dass die Masken zu Gesundheits- und Verhaltensstörungen führen. Ach ja? Vor mehr als siebzig Jahren spielten Sophia und ihre Zeitgenossen in Ruinenwüsten, froren sich durch den Winter und tranken dünne Suppen. Ohne Trauma.
Während des Lockdowns mussten in der Schweiz die Schüler einige Wochen zuhause bleiben und per Fernunterricht lernen. Jetzt befürchten Eltern emotionale Schlagseiten, unaufholbare Wissenslücken und Beziehungsdefizite. Ach ja? Während und nach dem Weltkrieg fehlten die Väter und manche Mütter versuchten per Prostitution die hungernde Familie sattzukriegen. Sophia und ihre Kameradinnen und Kameraden erlebten handicapierte Lehrer, gestörte Verwandte, Pausenplätze mit Bombentrichtern, mussten Kohle vom Bahngeleise klauen und überstanden den Schwarzmarkt samt Schiebereien. Unbeschadet.
Ich verstehe, dass Eltern Sorgen haben. Auch heute. Doch wenn es ein zuverlässig geeichtes Kummerbarometer gäbe, müsste dieses ein sehr grosses Spektrum abdecken. Oder ganz einfach: Wir jammern heute auf sehr hohem Niveau.