seniorweb.ch, 19.Oktober 2022
Alte erleiden Demütigungen, Beleidigungen, Drohungen,
Bei der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter sagt der Name beinahe schon alles. Letztes Jahr musste sich die private Institution um einen Viertel mehr Gewaltfälle kümmern als im Vorjahr.
Ruth Mettler Ernst ist die Geschäftsleiterin der Beschwerdestelle. Sie hat erfahren, dass Lösungen vor allem bei psychischen Problemen schwierig sind.
Seniorweb: Ruth Mettler, die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter bearbeitet jährlich mehr als 500 Fälle. Wo gelingen Einigungen am leichtesten?
Ruth Mettler: Am einfachsten sind Fälle, bei denen es um Zahlen geht, zum Beispiel Klagen über unkorrekte Heimrechnungen. Auch hier spielen Emotionen eine Rolle. Aber es geht um Tarife und Reglemente, um klare Grundlagen also.
Und die schwierigen Fälle?
Wenn psychische Probleme vorliegen sind Lösungen schwieriger zu finden.
Gleiches gilt, wenn es um vermeintliche oder reale Gewalt geht oder wenn Betroffene unter Wahnvorstellungen oder Psychosen leiden. Auch Familienkonflikte lassen sich nur schwer entwirren.
Die UBA kann nur beraten oder vermitteln. Was geschieht, wenn rechtlich verbindliche Entscheidungen nötig sind?
Dann kann es notwendig werden, die KESB einzuschalten, die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde. Wenn nötig leiten wir Betroffene an, zum Beispiel eine Gefährdungsmeldung zu machen. In Notfällen, wenn ältere Menschen sich selber nicht wehren können, kommt es vor, dass die UBA die KESB einbezieht. Wenn es um Gewalt geht, kann sich die Beschwerdestelle auch an die Polizei wenden. Umgekehrt bindet auch die KESB uns zunehmend ein, um Fälle zu bearbeiten.
Delegiert die UBA spezifische Probleme an weitere Institutionen?
Wir übernehmen nur Fälle, bei denen es um Konflikte oder Gewalt geht. Fehlen diese Voraussetzungen, empfehlen wir weitere Institutionen, zum Beispiel den Mieterverband oder Patientenorganisationen.
Die Beschwerdestelle arbeitet seit einem Vierteljahrhundert. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
In den Anfangsjahren haben sich vor allem Angehörige an uns gewandt. Jetzt nehmen vermehrt auch Direktbetroffene unsere Dienste in Anspruch, Heimbewohnende zum Bespiel. Immer noch melden sich nur wenig Leute mit Migrationshintergrund. Dies gilt aber auch für andere Organisationen mit ähnlichen Aufgaben wie wir.
Bei der UBA beraten Freiwillige, meist pensionierte Juristinnen, Ärzte, Pflegepersonen, Sozialarbeiterinnen. Suchen Sie neue Mitarbeitende?
Wir haben zwar kaum Mühe, Leute zu finden, müssen aber relativ viele Abgänge ausgleichen. Mitarbeitende scheiden aus, weil sie alt oder krank sind oder weil sie sich Auszeiten gönnen. Durchaus können sich auch Seniorweb-Leserinnen und –Leser melden. Sie sollten an einer spannenden Freiwilligenarbeit interessiert sein. Voraussetzung ist, dass sie in den Bereichen Medizin, Mediation, Recht, Pflege, Sozialarbeit, Heimwesen oder Sozialversicherung tätig waren.
Letztes Jahr hat die Beschwerdestelle 382 Konflikte bearbeitet. Zusätzlich hat sie 99 Fälle übernommen, bei denen es um Gewalt ging. Gegenüber dem Vorjahr haben diese um 23 Prozent zugenommen. Mehrheitlich waren dabei Frauen über 80 betroffen. Meist erfuhren sie psychische Misshandlungen: Drohungen, Demütigungen, Liebesentzug, zermürbende Kritik, tagelanges Schweigen.
Dies bedeutet, dass es sich bei diesen Formen der Gewalt nicht um Straftaten handelt. Psychische Misshandlung zeigt sich oft bei Paaren, entstanden durch Abhängigkeit, veränderte Machtverhältnisse oder Überforderung. In solchen Situationen sind niederschwellige Hilfen wichtig. Je früher dies geschieht, umso besser. Die Intervention durch die UBA erfordert Personen mit Fachkenntnissen über das Altern, über altersbedingte Krankheitsbilder und über Gewalt und Misshandlungen.
Die UBA finanziert sich über Mitglieder- und Gönnerbeiträge, Spenden, Legate und Projektbeiträge von Stiftungen und von Kantonen. Die Fallbearbeiterinnen und –bearbeiter erhalten Spesenentschädigungen. Die Auskünfte und Bearbeitungen durch die Beschwerdestelle sind unentgeltlich. Die UBA hat eine Zentralstelle in Zürich. Die Mitglieder von vier regionalen Fachkommissionen übernehmen die Fälle.
Letztes Jahr hat die Beschwerdestelle fast 400 Fälle bearbeitet. Drei Beispiele zeigen die Bandbreite.
Fall 1: Wenn der eigene Vater verwahrlost. Frau M. stellt Verwahrlosungstendenzen bei ihrem Vater fest. Eine Demenz-Diagnose hatte ihn erbost, er wurde schon wegen Depressionen hospitalisiert. Der Vater lebt allein in einer eigenen ungepflegten Wohnung. Ungeöffnete Mahnungen und Briefe stapeln sich. Bei einem Hausbesuch durch eine Fachperson der UBA zeigen sich beim 73-Jährigen klare kognitive Defizite, die auch erklären, warum er mit seinem Haushalt überfordert ist. Gleichzeitig ist er aber noch fit genug, um in seiner Wohnung zu leben. Die UBA empfiehlt, ihn beim Haushalt und bei den administrativen Arbeiten zu unterstützen. Die Familie setzt dies um. Zudem besucht der 73-Jährige ein Gedächtnistraining. Alle Massnahmen funktionieren bis heute.
Fall 2: Wenn der Ehepartner gewalttätig wird. Die Nichte lebt im Ausland und besucht ihren Onkel und ihre Tante zwei Mal pro Monat. Ihre Tante trinkt täglich eine Flasche Sekt. Durch den Alkohol wird sie aggressiv gegenüber ihrem Mann. Der Mann kann sich nicht wehren, die Situation spitzt sich zu. Die Tante möchte nicht ins Altersheim und ohne seine Frau will der Gemahl auch nicht. Der Mann deutet einen Suizid an. Ein Arzt der Beschwerdestelle besucht mit der Nichte das Paar. Vorerst scheint alles in Ordnung. Der betagte Mann besorgt den Haushalt, kauft ein und erledigt das Administrative. Er hat keine Gedächtnisstörungen oder depressive Verstimmungen. Seine Frau jedoch ist unter Alkoholeinfluss kognitiv eingeschränkt. Die Empfehlungen: Die Frau soll weniger trinken. Doch sie kann ihren Alkoholkonsum nicht senken. Mittlerweile schlägt sie ihren Mann täglich. Die UBA rät zu einer Trennung. Der Mann lebt nun bei seiner Nichte. Die Frau bleibt in ihrem Umfeld und bekommt Unterstützung der Spitex.
Fall 3: Wenn der Besuch der Tochter zur Qual wird. Frau F. meldet sich bei der UBA. Ihre Tochter käme öfters zu Besuch und bringe dabei immer ihren grossen Schäferhund mit. Die Tochter lebe dann mehrere Tage auf Kosten ihrer Mutter, die von der Tochter ständig angeschrien und tyrannisiert wird. Eine UBA-Fachperson besucht Frau F. Diese meistert ihr Leben selbstständig, ist vital und geistig fit. Ihre grosse Sorge gilt einzig und allein ihrer Tochter, und sie fürchtet deren Hund. Sie kann sich nicht wehren und der Stress setzt ihr immer mehr zu. Die UBA organisiert eine Aussprache mit der Tochter, um Verhaltensregeln aufzustellen. Die Tochter ist dazu nicht bereit und zeigt auch gegenüber der UBA-Fachperson ihre cholerische Seite. Daraufhin wird mit Einverständnis der Mutter ein Hausverbot erwirkt. Dies erzürnt die Tochter nur noch mehr, zeigt dann aber die nötige Wirkung: Das Hausverbot kann nach einiger Zeit aufgelöst werden. Mittlerweile sind sogar gelegentliche Besuche möglich, ohne dass es zu Gewalt kommt.