TEIL 5 DER SERIE «DAMALS – DAS WAR UNSERE SCHWEIZ»
Es gibt ein Vor- und ein Nachher: Erst als Maschinen die Menschen, Pferde und die Windkraft ersetzten, wurden Reisen und Transporte
planbar. Wann die beiden Männer bei Guttannen mit ihren Schlitten ankamen, war nicht genau vorhersehbar.
Wir kennen das. Die Online-Firma mailt, dass wir was bestellt haben. Dann teilt sie uns mit, dass sie das Paket dem Logistik-Unternehmen übergeben hat. Dieses erklärt, dass das Gewünschte übermorgen bei uns sei.
Übermorgen dann erhalten wir die genaue Lieferzeit. Und just in time liegt das Päckli vor unserer Haustüre. Bequem, aber: Von A bis Z haben wir weder mit jemanden gesprochen, noch jemanden gesehen. Logistik nennt man das. Sie ist für uns Kundschaft trotz oder wegen des digitalem Getrommels nicht fassbar, sie ist entmenschlicht. Früher sah man Menschen, roch Schweiss und hörte Lärm.
Die Aufnahmen dieser Serie stammen alle vom Fotografen und Bauernhausforscher Ernst Brunner (1901 bis 1979). Sein fotografischer Nachlass von rund 48′000 Bildern hinterliess er der Empirischen Kulturwissenschaft Schweiz (früher Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde).
Chumi nid hüt, chumi morn
Asbest I: Bei San Antonio im Puschlav bringen drei Männern das abgebaute
Material zur Alp hinunter. Die fünf Bilder stammen aus den Vierzigerjahren. SGV_12N_20876.
Asbest II: Auf der Zwischenstation angekommen, transportieren Maulesel das Asbest mit Karren zu Tal. SGV_12N_20879
Käse: Ob Vals im Lugnez ziehen die beiden Männer nach der Kästeilet die Laiber mit dem Schlitten hinunter. SGV_12N_20560
Holz: Der Mann mit der Stange flösst Baumstämme am Fellibach bei Gurtnellen. SGV_12N_07720
Holz II: Viel Schnee und Nebel behindern den Transport des Baumstamms. Ort unbekannt. SGV_12N_29651
Die Bilder von Ernst Brunner zeigen, wie man damals von A über X und Y nach Z kam. Manchmal geradeaus, manchmal kreuz und quer. Eigentlich genau wie heute, nur viel langsamer. Damals hiess das noch nicht Logistik, aber schon im Mittelalter gab es Menschen, die den schwierigen Warentransport über die Alpen organisierten. Sie trieben Kühe über den Lukmanier in die Lombardei, sie verschifften Getreide über den Bodensee. Dabei waren menschliche Körperkraft, willige Tiere und die Jahreszeiten wichtig. Das Wetter half oder stoppte den Warenfluss.
Dampfschiffe hatten Fahrplan. Das änderte sich als Maschinen die Transporte berechenbar machten. Segelschiffe hatten noch keinen Fahrplan, Dampfschiffe schon. Die Postkutsche konnte auch mal einen halben Tag später eintreffen, die Eisenbahn war pünktlich. Und wenns trotzdem Verspätungen gab, informierte der Telefgrafendienst die Betroffenen.
«Blaues Band» für die «Gallia». Dampfschiffe waren die frühesten von Maschinen angetriebenen Fortbewegungsmittel. Die «Guillaume Tell» verkehrte als erster Schweizer Dampfer ab 1823 auf dem Genfersee. Seit 200 Jahren durchpflügen also Schiffe mit Maschinen unsere Gewässer. Das älteste noch im Betrieb stehende Exemplar ist die «Greif» auf dem Greifensee. Sie erfreut ab 1895 bis heute maximal 22 Passagiere. Das schnellste Schweizer Dampfschiff war die «Gallia» auf dem Vierwaldstättersee. Sie schaffte fast 32 Stundenkilometer. Zum Vergleich: Ein modernes Ausflugschiff ist mit durchschnittlich 20 Stundenkilometern unterwegs.
Raddampfer sind schwierig zu steuern. In der Frühzeit der Dampfschiffe hatten noch längst nicht alle Stationen Landungsstege. Wo diese fehlten, mussten sich die Passagiere mit einem Boot vom und zum Schiff rudern lassen. Ein Raddampfer ist schwieriger zu steuern als Schiffe mit Schrauben. Damit er manövrierfähig bleibt, braucht der Schaufeldampfer mehr Tempo. Dies zeigt sich auch heute noch: Raddampfer fahren mit überraschend hoher Geschwindigkeit auf den Landungssteg zu.
Kampf der Privatbahnen. Allgemein verbreitet ist, dass die Spanisch-Brötli-Bahn zwischen Baden und Zürich ab 1847 die erste Eisenbahn der Schweiz war. Genau gesehen ist das falsch. Bereits drei Jahre früher verkehrten Züge zwischen Strasbourg und Basel. Sie waren ein paar hundert Meter auf Schweizer Boden unterwegs. Den Pionierprojekten folgte ein erbitterter Konkurrenzkampf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stritten die Bahnen um neue Strecken und Passagiere. Die Konflikte endeten erst als die damals noch privaten Bahngesellschaften fusionierten und 1909 die Bundesbahnen entstanden.
Holzklasse fürs Volk. Lebendige Geschichte sind nicht bloss Fakten, sondern auch Erinnerungen, unsere zum Bespiel als Seniorinnen und Senioren. Die älteren unter uns erinnern sich an die Zeit als die Bahn noch eine dritte Klasse mit Holzbänken hatte. Email-Schilder verboten «Gegenstände aus dem Fenster» zu werfen. Eine trübe Funzel erhellte notdürftig den Wagen in dem Zigaretten- und Stumpenrauch waberte. Die zweite Klasse war gepolstert, die erste bot Vorhänge, Spitzendeckeli und Samtpolster – und war vermutlich eine Mikroben- und Staubschleuder. 1956 verzichteten die SBB auf die dritte Klasse und ab den Sechzigern rollten fast nur noch so genannte Leichtstahlwagen auf den Schienen, mit roten Plastikpolstern für die Raucher, mit grünen für die Nichtraucher.
Vielgerühmte SBB. Jetzt reisen wir mitten in die Gegenwart: Den internationalen Fachmedien kann man entnehmen, dass die SBB als die die besten Eisenbahnen der Welt gelten. Pünktlich, zuverlässig, mit hilfsbereitem Personal und dichtem Streckennetz. Die SBB werden nicht bloss im Ausland beneidet, sie sind auch bei uns ganz oben beliebt. Das beweist ein Kommentar aus einem Bahnportal: Three years ago I shared a first class ‹vierer› seat group from Lausanne to Bern with a well-dressed man and a well-dressed woman, both engrossed in their laptops. Three hours later, to my great surprise, I saw the woman on the SRF TV evening news – she was/is Karin Keller-Sutter, a member of the 7-person Federal cabinet! Unterwegs von Lausanne nach Bern bemerkte der Kommentator eine gutgekleidete Dame. Später wurde ihm klar, dass er mit der Bundesrätin Keller-Sutter gereist war.
Als das Auto noch unschuldig war. Das Auto als Glücksbringer, das Auto als Umweltproblem. Zur Zeit als unsere Aufnahmen entstanden, waren die Fahrzeuge noch unschuldig. Die ersten funktionsfähigen Automobile entstanden Ende des 19. Jahrhunderts. Ab 1900 ratterten die ersten Autos durch die Schweiz. Hier waren die Fahrzeuge und ihre Lenker vorerst vor allem auf dem Lande nicht willkommen. Man bespritzte sie mit Wasser und Gülle oder blockierte die Strasse. Im Laufe der Jahre legte sich die Aufregung. Die Bauern und Gewerbler entdeckten, dass ihnen Nutzfahrzeuge die Arbeit erleichterten.
Oje die Tremola. Seit ihrer Erfindung und bis heute sind Autos, Luxus-, Prestige- und Freizeitobjekte. In unserer eigenen Erinnerung kramen wir, wenn das Familienauto als Ferienfahrzeug diente. Mutter schluckte Dramamin, die Kinder bekamen einen Schlüssel um den Hals und ein Weggli zum Kauen. Die sedierte Mutter war weitgehend unansprechbar, die Kinder, pardon, kotzten den VW Käfer voll, der Vater biss die Zähne zusammen. Staus am Gotthard sind kein Phänomen unserer Tage, die Tremola war die ultimative Herausforderung für die Familie und den Wagen.
Dank Maschinen pünktlich: Ankunft 17.38, Weiterfahrt 17.45
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Seniorweb und die Empirische Kulturwissenschaft Schweiz (EKWS) zeigen die Schweiz von gestern. Die in diesem Beitrag gezeigten Fotos
stammen aus den rund 300 000 historische Bilder umfassenden Sammlungen der EKWS. Seniorweb präsentiert thematische Serien mit Aufnahmen aus diesem
Archiv. In diesem Beitrag sind es ausschliesslich Bilder des Fotografen Ernst Brunner (1901 bis 1979).
Die Empirische Kulturwissenschaft Schweiz hiess bis vor kurzem Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde. Die EKWS versteht sich als Netzwerk, das alle Akteure zusammenführen soll, die in der Schweiz zu Alltags- und Populärkultur forschen oder diese einer breiten Öffentlichkeit vermitteln.