seniorweb.ch, 3. Dezember 2024
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Kurt Bachofner, 93, (Name geändert) ist bettlägerig. Seine Tochter Verena hilft ihm bei der Morgenroutine. Sie betreut und unterstützt ihn beim Essen und Trinken. Verena Bachofner muss dafür täglich etwa anderthalb Stunden aufwenden, sieben Tage in der Woche. Sie hat ihren bezahlten Job um 20 Prozent reduziert. Das ist ein happiges Minus in der Familienkasse. Seit einigen Monaten gleicht Verena Bachofner einen Teil dieses Verlusts aus. Sie ist bei einer der neuen Organisationen angestellt, die pflegende Angehörige für ihre Arbeit entschädigen. Seit Jahren besteht diese Möglichkeit. Sie wird aufgrund eines Bundesgerichtsentscheides seit 2019 immer mehr genutzt, ist aber auch umstritten.
Was spricht für dieses neue Modell? Vater Bachofner bleibt zuhause in der vertrauten Umgebung. Die Tochter betreut ihn, ohne auf den Minutenzeiger zu achten, und sie erhält einen Teil des ausfallenden Lohns vergütet. Immer noch opfern sich vor allem Frauen bei der Betreuung ihrer betagten Eltern auf. Dies überfordert die Betroffenen, schafft Stress und Streit. Die Pflege durch bezahlte Angehörige entlastet die Familien.
Wieviel Lohn bekommen die pflegenden Angehörigen? Sie erhalten zwischen 32 und 38 Franken pro Stunde und profitieren von den gesetzlich vorgeschriebenen Sozialleistungen. Sie sind formell bei den Unternehmen angestellt. Diese organisieren Weiterbildungen, manche übernehmen auch die Kosten für die Grundausbildung.
Welche Voraussetzungen müssen die Angehörigen mitbringen? Wer als Angehöriger pflegen will, muss in der Regel einen Lehrgang in Pflegehilfe oder eine gleichwertige Ausbildung besuchen. Mehrere Institutionen bieten diesen Kurs unter verschiedenen Namen an. Er umfasst in der Regel 14 Tage Praxis und eine 40-stündige Theorie. Er kostet zwischen 2200 und 3000 Franken. Die Teilnehmenden bezahlen ihn selbst. Einige Organisationen übernehmen die Kosten oder verrechnen sie mit den Löhnen.
Welche Massnahmen sind gestattet? Die Angehörigen dürfen keine Pflegemassnahmen übernehmen, die Fachpersonen vorbehalten sind. Möglich sind hingegen unter anderem Hilfe beim Essen und Trinken, bei der Körperpflege und bei der Hygiene, bei der Lagerung und bei der Mobilisierung oder beim An- und Ausziehen.
Welche Hilfsleistungen werden nicht vergütet? Hausarbeiten wie Putzen, Einkaufen, Kochen, aber auch Administratives wie Einzahlungen oder Abrechnungen werden nicht angerechnet.
Können Angehörige das Modell missbrauchen? Die neuen Möglichkeiten erfordern gegenseitiges Vertrauen. Bezahlte Pflege zuhause lässt sich mit Home-Office vergleichen. Die Versuchung, bei der Betreuung auch mal etwas weniger Zeit aufzuwenden oder gegenüber der Organisation den Aufwand zu hoch einzuschätzen, ist gross.
Wo melden sich Interessierte? Angehörige melden sich für ein Erstgespräch bei einer Pflege-Organisation. In der Regel kommt es dann mit einer Beraterin/einem Berater zu einem Vor-Ort-Treffen. Dabei wird mit dem Pflegebedürftigen und der Angehörigen der Umfang der Pflege fixiert.
Erzielen die neuen Organisationen zu hohe Renditen? Sie erhalten von der Krankenkasse und von der öffentlichen Hand zusammen rund 80 Franken pro Pflegestunde. Die Angehörigen erhalten zwischen 32 und 38 Franken. Ausserdem übernehmen die Organisationen Sozialleistungen und decken ihren administrativen Aufwand. Weiter organisieren sie Weiterbildungen und die Betreuung der Angehörigen. Der Rest bleibt als Gewinn bei den Institutionen.Fachleute schätzen diese Rendite auf bis zu 25 Prozent und beurteilen dies als überhöht.
Wie argumentiert die Gegenseite? Nadine Büchler von Carela, einer Spitexorganisation mit Fokus pflegende Angehörige bezweifelt diese Schätzung. Die Leistungen würden den öffentlichen oder privaten Spitex gleich vergütet. Ihre Firma strebe eine 10-prozentige Marge an. Diese sei für eine gesunde Entwicklung nötig. Mit welchen Renditen andere Organisationen kalkulieren, wisse sie nicht.
Weshalb werden die neuen Organisationen ausserdem kritisiert? Herkömmliche Spitex-Organisationen betrachten die Entwicklung mit einer gewissen Sorge. Marianne Pfister ist Co-Geschäftsführerin des Dachverbands Spitex Schweiz. Sie bezweifelt, ob alle neuen Unternehmen die Angehörigen genügend gut ausbilden und begleiten beziehungsweise die nötige Qualitätssicherung gewähren. Letztere schützt die Patientinnen und Patienten und auch die Pflegenden. Nadine Büchler von der Pflegeorganisation Carela kontert. Sie habe erfahren, dass bei ihrem Unternehmen viele Angehörige die Pflege bereits seit langer Zeit und sehr gut ausführen würden. In ihrer Organisation werde jede Angehörige von einer Pflegefachperson begleitet.
Treibt das neue Modell die Gesundheitskosten in die Höhe? Die Meinungen gehen auseinander. „Wir stellen fest, dass es zu einer enormen Kostensteigerung bei den Leistungszahlungen für pflegende Angehörige kommt,“ erklärt CSS-Mediensprecherin Sabine Betschart. Schätzungen gehen davon aus, dass das neue Modell aktuell jährlich Kosten von rund 100 Millionen Franken verursacht. Das scheint viel, ist aber bloss für etwa 0,1 Prozent der immensen Schweizer Gesundheitsaufwendungen verantwortlich.
Provozieren die neuen Unternehmen mit Werbung unnötigen Bedarf? Die Werbung im Fernsehen und in anderen Medien ist gut präsent. Sie gibt vor, dass der Einstieg mit wenig Aufwand verbunden sei. Der Autor hat sich bei einer Firma gemeldet. Eine Beraterin erläuterte recht ausführlich die Vorzüge und Verdienstmöglichkeiten. Die Einstiegshürden waren ein deutlich kleineres Thema. Der Autor merkte, dass die Firma interessiert an neuen Kunden war.
Wie beurteilt Pro Senectute die Situation? Alexander Widmer, Leiter Innovation und Politik bei Pro Senectute Schweiz, fragt sich, ob die hohen Margen gerechtfertigt sind. Seiner Meinung nach dürfen die Angehörigen-Entschädigungen allerdings nicht unbesehen als Steigerung der Gesundheitskosten betrachtet werden. Denn: “Wenn statt Angehörige die Spitex-Dienste mit professionellen Pflegekräften die Pflege übernehmen, kann dies für die Krankenkasse teurer sein. Die genauen Kosten hängen von der Art und dem Umfang der Pflege ab.“
Verändert das neue Modell unser gesellschaftliches Verständnis? Es ist eine gesellschaftspolitische Frage, ob und wann Töchter, Söhne, Ehepartnerinnen und -partner für ihren Dienst am Nächsten entschädigt werden sollen. „Wenn dies nicht mehr freiwillig und unentschädigt passiert, tangiert dies unser Verständnis vom Familien- und Zusammenleben“, argumentiert Marianne Pfister von der Spitex Schweiz.
Wie reagieren die Krankenkassen? Was früher unbezahlt geschah, wird nun entschädigt. Dies belastet die Krankenkassen. Es erstaunt deshalb, dass die zwei grössten Schweizer Kassen bei diesem Geschäft mitmischen. Die CSS und Helsana sind an deutschen Gesellschaften beteiligt, welche die Angehörigenpflege in der Schweiz organisieren. Gemäss CSS seien solche Beteiligungen nicht ungewöhnlich. Spitex-Kaderfrau Marianne Pfister sieht Interessenkonflikte, wenn sich Krankenkassen bei Leistungserbringern beteiligen.
Kommentar. Was für eine tolle Win-win-Geschichte, könnte man meinen. Alle profitieren. Die Pflegebedürftigen können in der vertrauten Umgebung bleiben, betreut von Familienmitgliedern. Diese kennen die Befürfnisse der Patienten. Und sie bekommen für die oft schwierige Arbeit einen anständigen Lohn.
Wie schade, dass dieses stimmige Bild Flecken hat. Misstrauisch macht, dass die neuen Pflegeorganisationen so viel Erfolg haben. Innert wenigen Jahren sind viele Mitbewerber eingestiegen. Fachleute werfen ihnen vor, dass vor allem die üppigen Renditen locken.
Stutzig machen die Krankenkassen. Die CSS glaubt, dass die neue Entwicklung «enorme Kosten» verursacht. Gleichzeitig beteiligt sich die selbe CSS mit der Helsana an solchen «kostensteigernden» Projekten.
Noch schwieriger beurteilbar sind die Vorwürfe, dass das neue System die Solidarität in der Familie gefährde. Familenmitlieder helfen Familienmitgliedern unbezahlt. Klar ist, dass
bei schwierigen Fällen Geld fliessen soll und darf. Aber wo ist die Grenze? Und wie stark lockt die Versuchung?
Die Angebote der hier behandelten Organisationen sind per Suchmaschinen zu erreichen. Teilweise ermöglichen auch herkömmliche Spitex entlöhnte Pflege