Nette Menschen, die Seniorinnen und Senioren helfen, das ist doch toll. Immer? Nein. Allzuviel ist ungesund.
Neulich fuhr ich Tram. Ich stieg in den vordersten Wagen ein. Einzig eine Frau sass im sonst leeren Fahrzeug. Als sie mich sah, stand sie auf. „Weid-dr hocke“, fragte sie. Ich bedankte mich und lehnte höflich ab. Mein innerer Rüpel jedoch schubste weit weniger gesellschaftsfähige Gedanken ins Hirn. „Bin ich denn schon so tatterig, dass mir die Gumsle nicht mal mehr zutraut, selber einen Platz zu finden.“ Das war Beispiel eins.
Beispiel zwei: Ich gehe gerne ins Berner Lorraine-Brocki. Dort hat es viel Krims und noch mehr Krams. Dort hat es auch ein schnuckeliges Bistro mit Aussenbestuhlung, dank der man das multi-kulti-afro-muslimisch-englisch-deutsche-kind-kegel-Treiben in der Lorraine betrachten kann. Kaffee und Co. holt man an der Theke. Sehr zu empfehlen ist der Zitronen-Cake. Als ich kürzlich meinen Kaffee in Empfang nahm, fragte mich die nette Theken-Frau: „Soll ich das Tablett nach draussen bringen?“ Ja, omG (oh mein Gott) bin ich denn wirklich so gwaggelig, dass ich mein Tassli nicht selber tragen kann?
Mit Beispiel drei erweitern wir die Besetzung. Meine Ehepartnerin stösst dazu. Beispiel drei enthält gute Nachrichten und ganz viele Fragen. Meine Gattin fährt draussen einen Rollstuhl. Keines der überschweren traktorähnlichen Gefährte, sondern einen leichten Handrollstuhl mit elektrischem Antrieb und elektronischer Steuerung. Clever, leider schweineteuer. Jetzt lassen wir die frohen Botschaften erklingen. Wer einen Rollstuhl fährt, freut sich über Hilfsbereitschaft, Rücksicht und Freundlichkeit. Schwarze Schafe sind so selten wie Kühe mit Rollschuhen.
Seniorinnen und Senioren: Mal mit Rosen verwöhnt, mal mit Stacheldraht eingezwängt.
Trotz so viel Sympathie wirds jetzt problematisch. Das Wohlwollen gegenüber der Rolli-Frau steigert sich nämlich oft ins völlig Überdrehte. Wenn die Pilotin naht, reissen Eltern ihre Kinder zur Seite und flüstern ihnen was von “armer Frau“ ins Ohr. Erwachsene spritzen vom Trottoir auf die Strasse. Männer und Frauen beugen sich mitfühlend hinunter und erklären in einfacher Kindersprache den Weg zur Migros-Filiale und zur Tramstation. Die Steigerung muss ich jetzt auch noch loswerden: In einem bekannten loeblichen Berner Warenhaus wurde nicht sie, die Kundin, sondern ich, der Begleiter, gefragt, ob „es“ die rote Jacke auch noch ansehen möchte. Ich wurde faktenfrei: „Meine Frau“, plusterte ich mich auf, „ist Dozentin für Mediävistik an der Berliner Humboldt-Universität. Sie spricht zwar akzentfrei Mittelhochdeutsch, Sie können aber auch Bärndütsch mit ihr reden.“
Ob mit oder ohne Rollstuhl: Die Frage ist die gleiche: Wann ist Wohlwollen, Rücksicht, Empathie störend, beleidigend, übergriffig? Ist die Frau, die mir ungebeten am Billettautomaten helfen will, ein rettender Engel oder ein eingebildetes Tüpfi? Schliesslich habe ich den Commodore C64 schon programmiert, als sie noch bunte Chügeli am Rechenrahmen verschob. Ist der Mann, der mich, den friedlich dösenden Senior auf dem Parkbänkli, fragt, obs mir gut geht, ein besorgter Samariter oder ein Störefried?
Ich frage die Seniorweb-Leserin, den Seniorweb-Leser und ich weiss bereits die Antwort: „Mal so, mal so ists richtig“. Das ist genau so nichtssagend wie meine eigene Antwort. Nämlich:
„Mal so, mal so“.
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* Seniorweb wird auch in Deutschland gelesen. Drum: Bibäbele bedeutet in der Deutschschweiz verhätscheln. Die Betonung liegt auf der ersten Silbe. Und: «Weid-dir hocke» entspricht «wollen Sie sitzen», (die) Gumsle ist eine törichte, (das) Tüpfi eine eingebildete Frau, in manchen Regionen auch ein Kochtopf.
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